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Hygienische Geräte: Unsere Task-Force gegen Krankenhauskeime

Oberflächen-Spezialist Martin Seifert entwickelt gemeinsam mit einem interdisziplinären Expertenteam hygienische Produktlösungen für Medizingeräte – und unterstützt damit Kliniken bei der Bekämpfung von nosokomialen Infektionen (HAIs).
10min
Katja Gäbelein
Veröffentlicht am March 4, 2024

Wegen einer ernsthaften Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen – und sich dort eine zusätzliche schwere Infektion „einzufangen“: Ein Albtraum für Patient*innen. Doch leider ist das keine Seltenheit. 

Das musste vor einigen Jahren Martin Seiferts Cousin am eigenen Leib erfahren – damals ein Mann in seinen 30ern. Wegen einer schweren Lungenentzündung wurde er im Krankenhaus an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Dabei zog er sich einen Lungenkeim zu – und überlebte diese zusätzliche Infektion nur mit viel Glück, erzählt der Senior Key Expert für Oberflächentechnologie ernst: „Was meinem Cousin damals passiert ist, ist definitiv ein Grund, warum mir das Hygiene-Thema so am Herzen liegt“.
Nosokomiale Infektionen sind häufig: Laut eines Berichts der World Health Organisation (WHO) aus dem Jahr 2022 erkranken in Akutkrankenhäusern von 100 Patient*innen sieben in Ländern mit hohem Einkommen und 15 in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen während ihres Krankenhausaufenthalts an mindestens einer nosokomialen Infektion (auch HAI genannt – kurz für „Healthcare-Associated Infection“ oder auch „Healthcare-Acquired Infection“).

Im Durchschnitt stirbt eine*r von zehn betroffenen Patient*innen an der HAI. Sind multiresistente Erreger an der Infektion beteiligt, liegt die Zahl der Todesfälle noch höher1. Auch finanziell sind nosokomiale Infektionen eine Belastung für das Gesundheitssystem, denn verlängerte Krankenaufenthalte kosten Geld. Zudem hat die COVID-19-Pandemie gezeigt, wie zentral das Thema Hygiene in Gesundheitseinrichtungen ist.

„Unsere klinischen Partner tun alles, was in ihrer Macht steht, um den Patient*innen ein sicheres Umfeld zu ermöglichen, und investieren sehr viel Zeit und Geld in das Thema Hygiene und Infektionsprävention“, betont Martin Seifert.

Und der WHO-Bericht sagt auch: Infektionen im Gesundheitswesen könnten um etwa 70 Prozent reduziert werden, wenn es effiziente IPC-Programme gibt, wenn also empfohlene Hygienevorschriften konsequent umgesetzt werden.

IPC steht für "Infektionsprävention und Kontrolle". Es handelt sich um wissenschaftliche Ansätze und praktische Lösungen zur Verhinderung von Infektionen und deren Ausbreitung innerhalb von Gesundheitseinrichtungen.
Auf dem Bild ist eine orangene, glatte Oberfläche zu sehen. Im Fokus sind Wassertropfen, welche auf der Fläche zu sehen sind. Nach hinten wird das Bild unscharf.
In jeder Klinik gibt es speziell geschultes Personal und sorgfältig ausgearbeitete Hygiene-Pläne. Doch als das von Seifert mitbegründete Expertenteam bei Siemens Healthineers 2019 begann, sich intensiv mit dem Thema hygienische Produktlösungen auseinander zu setzen, wurde schnell klar: Diese Hygienepläne sind im Klinik-Alltag häufig schwer umzusetzen.

Seifert und seine Kolleg*innen befragten internationales klinisches Personal: insgesamt über 70 Medizinisch-Technische Radiologieassistent*innen (MTRA), Chirurgisch-Technische-Assistent*innen (CTA), Labortechniker*innen, Hygienebeauftragte und Entscheider*innen aus dem Klinik-Management, um mehr über ihre Hygiene-Herausforderungen zu erfahren. Und lernten viel über eine Realität, die von Personalmangel, wirtschaftlichen Zwängen und Zeitdruck bestimmt ist. 

Als Herausforderung beschrieben die Befragten beispielsweise die Reinigung der Röhren von MRT- und CT-Scannern: Der Bereich sei schwer zugänglich und der langwierige Reinigungsprozess führe bei den hoch ausgelasteten Geräten zu ungewollten Stillstandzeiten. Insgesamt waren bei den Antworten der Wunsch nach robusten Oberflächen, schneller und einfacher Reinigungsfähigkeit und klar aufgezeigten Desinfektionsabläufen vorherrschend, sagt Seifert.


In the picture we see Martin Seifert tracing the surface of a device with his finger. The device has a round, open circle through which Martin is photographed.

Und welche Ansatzpunkte gibt es nun für besonders hygienische medizinische Geräte? „Das Thema Hygiene ist sehr komplex und vielschichtig“, erklärt Martin Seifert: „Jedes einzelne Gerät hat eine andere Funktion und ist in einen anderen klinischen Ablauf eingebunden. Nicht jedes Oberflächen-Material und jede Desinfektions-Technologie für Oberflächen ist für jedes Gerät und jeden Ablauf geeignet. Es gibt viele gesetzliche Standards und Regularien, die wir beachten müssen. Und meist müssen wir für ein gutes Endergebnis mehrere Maßnahmen kombinieren.“ 

Gerade weil das Thema so vielschichtig ist, braucht es ein ganzes Team von Experten, die ihr spezifisches Fachwissen – sozusagen ihre „Super Skills“– einbringen.

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Karriere-Portal
Neben regelmäßigen Co-Creation-Sessions mit klinischen Partnern ist das Team mit Kolleg*innen aus allen Produktlinien und Geschäftsbereichen bei Siemens Healthineers in engem Austausch. So ist es bereits in die frühen Entwicklungsphasen der künftigen medizinischen Geräte involviert.

Ein hygienisches Produkt braucht ein spezielles Design. Unter Federführung von Tim Richter, der bei Siemens Healthineers das Industrial Design Team leitet, hat die Initiative in Zusammenarbeit mit den Produktdesigner*innen und Kolleg*innen aus Forschung und Entwicklung rund 60 Prinzipien für Hygienisches Design entwickelt. Diese werden während des Design-Prozesses ins jeweilige Produkt integriert.

Medizintechnik menschlich zu gestalten – das ist die zentrale Aufgabe unseres UX-Teams und unserer Industrial Designer.
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Das Ziel ist es, durch das Design den Reinigungsvorgang für das klinische Personal so einfach und effizient wie möglich zu gestalten, um die Keimübertragung zu erschweren und die Bildung von Biofilmen zu verhindern.

Eine Ansammlung von Mikroorganismen, die sich an einer Oberfläche festsetzen und durch eine Schleimschicht miteinander verbunden sind. Er besteht z.B. aus Bakterien und Pilzen und kann die Ausbreitung von Infektionen begünstigen.
Nahaufnahme: in einer grafischen Linie sieht man Design-Farbmuster von Oberflächen medizinischer Geräte in Grauabstufungen, weiß und orange.

Simplify. Smoothen. Automate.

Übersetzung: Vereinfachen. Glätten. Automatisieren.

Beispielsweise integrieren die Entwickler*innen und Produktdesigner*innen so viele kabellose Lösungen wie möglich und Touchscreens statt Bedien-Knöpfe. Diese sind leichter abzuwischen und zu desinfizieren. Insgesamt haben sie die Designs der Komponenten so optimiert, dass es möglichst wenig hygienekritische Bereiche wie Kanten und Spalten gibt, wo sich Keime sammeln und vermehren könnten.
Die Oberflächentechnologie ist Martin Seiferts Spezialgebiet. In Zusammenarbeit mit Lieferanten und Kolleg*innen hat er über die Zeit einen standardisierten „Baukasten“ mit aktuellen Oberflächenmaterialien und Schichtstrukturen zusammengestellt. Dieser kann für medizinische Geräte verwendet werden: Er deckt regulatorische Anforderungen ab und kann individuell an die spezifischen Hygiene-Anforderungen des jeweiligen Gerätes angepasst werden.

„Bei unseren Auswahltests untersuchen wir beispielsweise, ob die Oberflächen mit den im klinischen Umfeld üblichen Hygiene-Prozeduren und Techniken aufbereitbar und resistent gegen die im klinischen Einsatz üblichen Reinigungs- und Desinfektionsmittel sind. Und wir prüfen sie auf ihre Biokompatibilität“, erklärt Martin Seifert.

Die Fähigkeit eines Materials, mit biologischen Systemen zu interagieren, ohne schädliche Auswirkungen hervorzurufen. Sie ist ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung von medizinischen Geräten, da diese oft in direktem Kontakt mit Körpergewebe stehen.

Für Geräte, die in Operationssälen eingesetzt werden und daher höchste hygienische Standards erfüllen müssen, werden teils funktionalisierte Beschichtungsmaterialien verwendet, um die Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen zu unterstützen.

Der dritte Schwerpunkt, auf den sich das Team konzentriert, ist die validierte Aufbereitung, also Reinigung und Desinfektion, von relevanten Medizingeräte-Oberflächen. Dieser Themenkomplex umfasst die Unteraspekte Hygienetechnik, Hygienische Arbeitsabläufe und Hygiene-Prüfungen. Im Bereich Hygienetechnik ist Martin Seifert ständig auf der Suche nach neuen oder bestehenden Technologien, die an den medizinischen Sektor angepasst werden können. Dabei erforscht er zahlreiche unterschiedliche Ansätze, um z.B. die Oberflächen von Medizingeräten noch robuster zu gestalten, die hygienische Aufbereitung der Oberflächen zu vereinfachen und zu automatisieren oder Verschmutzungen besser erkennbar zu machen. 

Mit den Hygiene-Analysen stellt das Team beispielsweise sicher, dass unsere Geräte die Hygienestandards bei der Reinigung und Desinfektion erfüllen. Martin Seifert arbeitet in diesem Bereich eng mit Daniel Mach, einem Experten für gesetzliche Normen, Hygiene-Richtlinien und Materialprüfungen, zusammen.

Basierend auf den Erkenntnissen aus ihren Befragungen und Forschungsergebnissen hat das Team eine "Hygienic Design"-Studie zusammengestellt, die einen Blick in die Zukunft des menschenzentrierten Industriedesigns wirft. Details können wir hier leider nicht verraten, aber so viel sei gesagt: In Zeiten, in denen durch KI immer mehr Automatisierung und Robotik-Elemente bei den Geräten möglich und durch den Fachkräftemangel auch nötig werden, rücken sich selbst automatisiert reinigende Komponenten in den Fokus der Entwicklung.

Hygienische Produktlösungen zu finden ist aufwendig. Es gibt keine pauschale Lösung, die zu allen Geräten und Anwendungsbereichen passt, weiß Martin Seifert. Aber der Aufwand lohnt sich: „Jeder Mensch, der an einer nosokomialen Infektion erkrankt, ist einer zu viel.“ Und hygienisch durchdachte Geräte können nicht nur Patient*innen, sondern auch das klinische Personal, das sie bedient, besser schützen.

Eine letzte Frage stellt sich noch: Wird man eigentlich privat ein bisschen zum „Sauberkeitsfanatiker“, wenn man sich beruflich so intensiv mit allen Arten von gruseligen Keimen auseinandersetzt? Martin Seifert lacht: „Meine Familie würde vermutlich schon behaupten, dass ich ziemlich auf Hygiene achte. Mir ist es zum Beispiel wichtig, dass die Kinder die Hände waschen, wenn sie aus der Schule kommen, oder dass sie nichts essen, was auf einen schmutzigen Boden gefallen ist.“ Aber seine Kinder – zwei Jungs im Alter von sieben und neun Jahren – dürfen und sollen trotzdem ausgiebig draußen im Dreck spielen, betont er: „Das ist gut fürs Immunsystem.“

Von Katja Gäbelein

Katja Gäbelein ist Online-Redakteurin und Content Creator für Multimedia-Inhalte bei Siemens Healthineers. Sie ist spezialisiert auf Technologie- und Innovationsthemen.